Das verdrängte KZ

    Von Ludmilla ReisingerAm Loiblpass stehen einander zwei unterschiedliche Zugänge zur Erinnerung an die Nazi-Verbrechen des Zweiten Weltkriegs gegenüber: die bereits in den 50ern eingerichtete Gedenkstätte in Slowenien auf der einen und das jahrzehntelange „Vergessen” der Geschichte auf der Kärntner Seite. Das Ringen um ein angemessenes Erinnern an das KZ Loibl Nord ist aber noch immer nicht vorbei. 

    TEIL I – Der Tunnel

    4. Dezember 1944. Das Wetter am Loiblpass ist schlecht, auf einem Amateurstummfilm ist Schneeregen zu sehen. Trotzdem haben sich hier hochrangige Nationalsozialisten versammelt. Endlich kann zum ersten Mal der Tunnel befahren werden, ein Projekt mit hoher Priorität für den Führer: endlich wird der Weg in den Süden frei. Durchgebrochen haben ihn 1800 Häftlinge aus Mauthausen, verteilt auf ein Nordlager in Österreich und ein Südlager in Slowenien. Zur großen Offensive kommt es allerdings nicht mehr; kein halbes Jahr später ist das Deutsche Reich Geschichte. Und damit auch der Tunnel. Zehn Jahre lang versiegelt, wird er erst in den 60er-Jahren wieder geöffnet und zur wichtigsten Verbindung in den Süden bis zum Bau des Karawankentunnels. Über das Konzentrationslager aber wird auf österreichischer Seite lange geschwiegen. Nur eine langsam verwitternde Steintafel am Tunnelportal erwähnt hier die Arbeit der Häftlinge.

    Sommer 2019. Gedenkfeier am Loibl Nord. Auf den Pressefotos sieht man einen Mann im hellen Anzug am Rednerpult, auf seinem Jackett trägt er ein großes, rotes Schild, auf dem „aufdecken anstatt zudecken!” zu lesen ist. Er spricht davon, dass wir niemals vergessen dürfen. Sein Name ist Peter Gstettner. Der ehemalige Professor für Pädagogik an der Universität Klagenfurt ist dafür verantwortlich, dass ab 1995 auch auf österreichischer Seite eine Gedenkfeier abgehalten wird. Seit 30 Jahren kämpft er hier für eine würdige Gedenkkultur, wie sie die Slowenen auf der Südseite schon seit dem Bau ihres Denkmals 1950 haben.

    “Das musst du lesen, hat er gesagt, das ist bei uns da oben” – Peter Gstettner über das Buch, das ihn zu den Überresten des Loibl-KZs führte. Foto: David Marousek

    Gstettner kennt jeden Quadratzentimeter des Geländes, hat mit Überlebenden und Augenzeugen gesprochen – und er erzählt gerne. Seine Forschung zu dem Lager beginnt mit einem Roman: „Der Tunnel“ von André Lacaze. „Ein Freund hat mich darauf hingewiesen “, erzählt Gstettner. Er steht am Straßenrand beim Loibltunnel, vor ihm Gedenktafeln mit einer Lagerskizze, hinter ihm ein lärmt ein Rasenmäher. „Das musst du lesen, hat er gesagt, das ist bei uns da oben.“ Tatsächlich war André Lacaze ein französischer Häftling im Lager Loibl Nord und sein Buch dokumentierte das KZ, das längst im totalen Schweigen versunken war. 1988 steigt Gstettner dann das erste Mal auf den Loiblpass, um nach Ruinen zu suchen. Er findet Terrassen im Wald und Fundamente – ein überwuchertes und vergessenes Arbeitslager.

    TEIL II – Ans Licht

    1993. Wie jedes Jahr gehen die Überlebenden nach der Gedenkfeier auf der slowenischen Seite durch den Loibltunnel, um auch auf der Nordseite zu gedenken. Sie stehen am Portal, direkt vor dem österreichischen Grenzposten, singen die Marseillaise – der Großteil der Häftlinge im Loibl Nord kam aus Frankreich – und legen Kränze nieder, als ihnen jemand entgegen kommt. Es ist Peter Gstettner, der sich vorstellt und sagt, er wolle auch auf österreichischer Seite ein Gedenken einrichten. „Niemand in Österreich hat gewusst, dass hier jedes Jahr die ehemaligen französischen Häftlinge ihrer Kameraden gedenken”, erinnert sich Gstettner. „Sie waren erstaunt, als ich aufgetaucht bin.”

    1995 trat Gstettner mit seinen Forschungen zum Lager Loibl Nord an die Öffentlichkeit. Er gründete den Verein Mauthausen Kärnten/Koroška und brachte die beiden Gedenktafeln an, die bis heute von der Straße aus zu sehen sind. Im selben Jahr fand die erste österreichische Erinnerungsveranstaltung statt. „Da mussten sie dann alle kommen”, sagt Gstettner und meint damit die österreichischen Politiker. Die Kärntner Landesregierung ist ebenso eingeladen wie der damalige Innenminister Caspar Einem (SPÖ). Keiner von ihnen ist bis dato am Loibl Nord gewesen. Doch jetzt müssen sie sich am frühen Morgen in der Kälte versammeln und zittern in ihren Anzügen, während Gstettner ihnen Heimatkundeunterricht gibt. „Das war meine erste Genugtuung”, sagt der Professor.

    TEIL III – Ein Mann und sein Denkmal

    Die nächste Genugtuung sind wohl die Steinfiguren, die hinter den Gedenktafeln im hohen Gras aufgelegt sind. Dutzende von ihnen schaffen eine unheimliche, an einen jüdischen Friedhof erinnernde Atmosphäre. Es handelt sich um die Installation „Die Rückkehr der Steine” des Tiroler Künstlers Georg Planer, die 2014 am Loibl Nord entstand. „Eigentlich wollten der Künstler und ich die Steinmenschen direkt auf dem ehemaligen KZ Gelände auflegen”, sagt Gstettner. Doch das Innenministerium hatte das Areal seit 2008 gepachtet und stemmte sich gegen dieses Vorhaben. „Man hat sich auf den Denkmalschutz berufen”, sagt Gstettner. „Angeblich hätte sich dadurch das Erscheinungsbild des Geländes geändert.” Obwohl der Appellplatz des KZs inzwischen gerodet worden war, bekam Gstettner also keine Erlaubnis für die Steinmenschen. Doch der Professor fand ein Schlupfloch: Die Grünflächen bei den Gedenktafeln gehören nicht dem Innenministerium, sondern dem Straßenlandesamt, mit dem Gstettner einen Nutzungsvertrag aushandeln konnte. „Seitdem ist das Innenministerium auf mich nicht mehr gut zu sprechen, weil ich das Projekt trotzdem umgesetzt habe.”

    Von den Steinskulpturen zum eigentlichen Lager sind es ein paar hundert Meter, beschildert ist der Weg nicht. „Auch gut”, kommentiert Gstettner. „Inzwischen scheue ich mich, es jemandem zu zeigen.” Gründe dafür gibt es viele: etwa die Ortstafel mit der Aufschrift „KZ-Gedenkstätte Loibl Nord”, die am Lagereingang steht, oder die hellen Betonplatten, die im Gras zu sehen sind. Erst im Vorjahr hat das Ministerium die ursprünglichen Fundamente der Waschbaracken „sarkophagisieren” lassen – ohne den Professor in Kenntnis zu setzen. Dadurch soll die Substanz gesichert werden, doch Gstettner möchte die Ruinen wieder freilegen, am liebsten so schnell wie möglich. „Das könnte genauso gut das Fundament für einen Bungalow sein, so wie es aussieht“, sagt er und zeigt auf den Beton. „Hier vielleicht der Swimming Pool.“ Über den Fundamenten erheben sich Eisengestelle, die die Baracken nachbilden sollen. Dies ist ein weiteres Projekt des Innenministeriums und des Bundesdenkmalamtes  – und ein Dorn in Gstettners Auge. „Dieser Ort war ohne Beton und Stahl sehr eindrucksvoll“, sagt er. „Jetzt hat sich sein Charakter verändert, aber nicht sonderlich positiv.“

    “Ich würde das am liebsten morgen wieder aufmachen.” Seit Sommer letzten Jahres versucht
    Gstettner die Betonverschalung der Fundamente rückgängig machen zu lassen – ohne Erfolg. Foto: David Marousek

    Durch den Wald führt ein kleiner Weg zurück zum Tunnelportal. Von hier aus hat man besten Blick auf Gstettners letzten Triumph: ein Mahnmal des japanischen Künstlers Seiji Komoto, das im Mai enthüllt wurde. Es zeigt – stark abstrahiert – einen KZ-Häftling, eine über ihm erhobene Faust und das Tunnelportal. Auch dieses Mahnmal steht nicht auf dem eigentlichen KZ-Gelände, sondern am Straßenrand, weil Gstettner erneut keine Bewilligung für eine Installation am eigentlichen Lagergelände bekommen hat. 

    Die Tafeln, die Steinmenschen und das Mahnmal: Diese – teils von Gstettner hart erkämpften – Maßnahmen sind jedoch nur ein Bruchteil der Ideen, die es für den Ort gibt. Insgesamt haben Studiengruppen und Schulen schon beinahe 50 Konzepte für eine Gedenkstätte eingereicht. Auf kein einziges gab es positive Rückmeldungen oder Zusagen, sich damit zu beschäftigen, geschweige denn Realisierungen. „Sie sind in irgendwelchen ministeriellen Schubladen gelandet und dort verschwunden“, sagt Gstettner. „Für mich bleibt unbeantwortet, warum diese Beiträge in Wien keine Wertschätzung gefunden haben.“ Abgeschlossen ist die Geschichte rund um die Gedenkstätte auf dem Loibl Nord also noch lange nicht: Es bleibt etwa die Frage nach einer Gedenktafel für die Ermordeten, von denen seit 1995 Namen und Daten bekannt sind. Was fehlt, ist eine Bewilligung.

    TEIL IV – Loibltal/Brodi 1

    Fährt man vom Loiblpass in Richtung Ferlach, ist das nächste Haus an der Straße “Loibltal/Brodi 1”. Neben dem Eingang hängen zwei Tafeln. Sie erzählen die Geschichte des Hauses und der Familie Kohlenprath, der es gehört. Und dann ist da noch das Einschussloch. Zuletzt hat 2003 ein Unbekannter die Waffe auf das Haus gerichtet. Der Grund: Die Kohlenpraths haben das Schweigen über die Geschehnisse am Loibl gebrochen. „Wir sind Grenzgänger mit dem, was wir tun”, sagt Petra Kohlenprath, die sich seit 2015 innerhalb ihrer Initiative „Interferenzen“ öffentlich mit ihrer eigenen Familiengeschichte beschäftigt. „Wir haben uns in die Auslage gestellt und damit müssen wir umgehen.”

    Loibltal/Brodi 1 ist seit Jahrzehnten unbewohnt, dennoch kümmert sich Hanzi Kohlenprath, Petras Vater, hingebungsvoll um das kleine Straßenmeisterhaus. Draußen ist alles frisch gemäht, drinnen hellgelb gestrichene Wände, gemustertes Tischtuch und passende Vorhänge. Hanzi Kohlenprath setzt sich ans Fenster, um zu erzählen. Im Türrahmen steht seine Frau, die er vor Jahrzehnten in Slowenien kennengelernt hat. Hanzi ist ein schüchterner Mann, doch je länger er spricht, desto mehr Erinnerungen sprudeln durcheinander gewirbelt aus ihm heraus. „Meine Geschichte hängt von Anfang an mit dem Loibl-Tunnel zusammen.“ Als Kind hat er regelmäßig die nur einen Kilometer entfernten Häftlinge gesehen, zum Beispiel beim Schneeschaufeln. Nur mit Holzpantoffeln und ohne Socken. Manchmal ist er mit seiner Mutter auch beim Lager gewesen, wo die Sträflinge arbeiteten, die auch „die Gestreiften” genannt wurden. Mitleid habe man nicht haben dürfen, erzählt er: „Das war gefährlich.“ Reden konnte er darüber lange mit niemandem, weder mit Freunden noch mit der Familie. Die Töchter hätten ihm lange nicht zuhören wollen.

    Inzwischen fühlt sich Hanzi Kohlenprath wohl, wenn er erzählen kann – davor steht langes Schweigen. Foto: David Marousek

    Ein anderer aber hat oft geredet: Hanzis Vater, der selbst 1944 bei den Partisanen gekämpft hatte und erst am 6. November 1945 zu der Familie zurückgekehrt war, ließ sich zu Erzählungen aus dem Krieg hinreißen. Vor allem, wenn er etwas getrunken hatte. „Damit ist er überall aufgefallen und dreimal angezeigt worden, wegen Ruhestörung in den Gasthäusern“, erzählt Hanzi. Paul Kohlenprath ging es aber nur darum, dass sich eine solche Zeit nicht wiederholen darf. Er habe mit der Waffe in der Hand für ein freies, demokratisches Österreich gekämpft, schrieb er in einem Brief an die BH Klagenfurt 1954, nachdem er wegen einer Schlägerei angezeigt wurde, die er „im Genuss geistiger Getränke“ begonnen haben soll. Er habe nur zugeschlagen, weil ihm vorgeworfen wurde, eigentlich auf die andere Seite des Loibls zu gehören, zu den „Jugo-Partisanen”. Geschichten wie diese gibt es in dieser Familie viele – und Petra Kohlenprath arbeitet seit vier Jahren daran, sie aufzuarbeiten.

    TEIL V – Die Tochter

    Petra ist eine schmale Frau. Wenn sie erzählt, gestikuliert sie stark. Der Loiblpass und das Geschehen dort waren für sie immer Teil der Familienerzählung. Nachdem ihr Vater das Lager und seine Insassen als Kind gesehen hatte, versuchte er immer wieder darüber zu sprechen. Das war schwierig für Petra, die das offensichtliche Leiden ihres Vaters nicht ertragen konnte und es mit Desinteresse quittierte. Erst vor zehn Jahren begann für sie das aktive Zuhören: Mit ihrem Blog, den jährlichen Veranstaltungen „Interferenzen“ und dem Buch „na pamet“ („aus der Erinnerung”), in dem sie Erzählungen sammelte, machte sie das Haus und seine Geschichte der Öffentlichkeit zugänglich. Seitdem sei es viel leichter geworden. „Wir sind aus der starken Emotionalität herausgekommen und die Diskussion ist sachlicher und konkreter geworden”, sagt sie.

    Für Hanzi sind diese Aktionen seiner Tochter überraschend gekommen, dennoch geht es auch ihm jetzt besser. „Ich habe Selbstvertrauen bekommen und spreche inzwischen gerne darüber.“ Das aber heißt noch lange nicht, dass das Schweigen im Tal gebrochen ist. „Offen gesprochen wird bis heute nicht”, sagt Hanzi Kohlenprath. „Nur die Fremden kommen und wollen alles über den Tunnel wissen. Aus dem Tal kommt niemand.”

    TEIL VI – Auf der anderen Seite

    Nach den Reden, den Kranzniederlegungen und den Zeitzeugengespräche fahren die Besucher der Gedenkveranstaltung am Loibl Nord jedes Jahr durch den Tunnel in den Süden zum Mahnmal auf slowenischer Seite. Ein schwarzes Skelett reckt sich in den Himmel, auf dem steinernen Sockel steht „J’accuse“ – „Ich klage an“ -, ein Ausspruch, der aus einem Brief des französischen Schriftstellers Émile Zola stammt. Zu den Füßen der Figur liegt eine verdorrte Rose, um sie herum gruppieren sich fünf keilförmige Steinwände.

    “J’accuse”: Das Spomenik auf der Südseite des Loiblpasses erinnert in fünf Sprachen an die
    Verbrechen, die geschehen sind. Foto: David Marousek

    Es handelt sich um ein Spomenik, jene abstrakten Monumente, die in ganz Ex-Jugoslawien nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet wurden. Gigantische geflügelte Augen, Blumen, Wolken und Sternformen –  die amorphen Figuren aus Stahl und Beton standen oft an Orten, wo Partisanen über den Faschismus triumphiert hatten. Hunderte dieser Denkmäler sind – über den ganzen Balkan verteilt – erhalten geblieben, meist in abgelegenen Berggegenden. So wie jenes im Süden des Loibl-Passes, das um 1950 errichtet wurde. 38 Jahre, bevor der erste Österreicher einen Fuß in das Lager Nord setzte.

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