Von Jakob Kaufmann – Ein Gespräch mit dem Ökonomen Francesco Magris über den Zerfall des Zentrums, die Bedeutung der Grenze, die Suche nach einer gemeinsamen europäischen Identität und die Gefahr der Nostalgie in seiner Heimatstadt Triest.
Von der Durchlässigkeit eines trennenden Begriffs spricht Francesco Magris in seiner Essay “Die Grenze”, das im Frühjahr 2019 in deutscher Sprache erschienen ist. In dem Buch abstrahiert Magris den Begriff der Grenze von der Geografie und zeigt seine Bedeutung in der Gesellschaft, der Literatur und der Wirtschaft. Er nähert sich dem Begriff sprachlich und untersucht seine verschiedenen Bedeutungen als Rand, als Rahmen oder versteckt in der ökonomischen Lehre.
slo.magazin: Wieso haben Sie ein Buch über die Grenze geschrieben?
Ich habe das Buch geschrieben, um den Begriff der Grenze und des Randes zu bewahren. Ich wollte unterscheiden, was der wahre Rand und was der irreführende Rand ist. Jeder möchte heute seine eigene Identität und Verschiedenartigkeit hervorheben, doch in meinen Augen wird der eigentliche Rand von Menschen gebildet, die sich unbewusst dort befinden und nicht dorthin drängen. Der Rand gehört denen, die nicht wissen, dass er ihnen gehört. Wenn jeder eine eigene Identität beansprucht, kann das zu Konflikten führen. Ich habe beobachtet, dass der Rand so überfüllt wird, dass er zum neuen Zentrum wird. Jeder zelebriert die Unterschiede und das zerteilt unser soziales, politisches und kulturelles Leben. Das Zentrum existiert nicht mehr. Wenn alles zum Rand wird, zerfällt die Mitte. Aber wenn wir erkennen, dass wir die Summe mehrerer Identitäten sind, erkennen wir auch, dass wir uns gewisse Identitäten teilen. Unsere Unterschiede sind nicht unbedingt das Interessante an uns. Wir sind Kinder der Französischen Revolution und es sollte etwas geben, das uns verbindet.
slo: Wenn man über den zentralen Piazza della Borsa in Ihrer Geburtsstadt Triest spaziert, erblickt man ein riesiges Banner mit dem Aufdruck “Willkommen im freien Territorium Triest”. Wie beurteilen Sie separatistische Bestrebungen, die Staatsgrenzen an eine bestimmte Identität anpassen wollen?
Triest ist dieses Symbol einer sehr starken Identität und gleichzeitig vieler verschiedener Formen von Identität. Denn in Triest, auch wenn es keine große Stadt ist, gibt es sehr viele linguistische und ethnische Gemeinschaften. So ist die Stadt ein sehr gutes Beispiel dafür, was es heißt, mit anderen zu leben. In Triest ist die Frage: Wer sind die anderen? In der Zeit des Eisernen Vorhangs waren die anderen die Slawen. Der Eiserne Vorhang verlief zwei Kilometer von meinem Haus entfernt. Die andere Seite war so nah und verkörperte gleichzeitig das andere Europa.
slo: Der Eiserne Vorhang ist seit 30 Jahren Geschichte. Wie hat der Umbruch die Wahrnehmung verändert?
Nach dem Fall der Mauer gab es eine gewisse Anerkennung der anderen Komponenten der Stadt. Nun tritt eine neue Art des Identitätskonflikts auf. Die Bewegung für einen Freistaat Triest ist meiner Meinung nach etwas sehr Folkloristisches. Aber hinter dem folkloristischen Aspekt kann die breitere Wahrnehmung der eigenen Identität stehen. Triest ist seit der Unterzeichnung des Abkommens vom Osimo 1977 italienisch. Die Bewegung für ein freies Triest ist nostalgisch. Nostalgie ist gefährlich. Manchmal muss man die Realität so akzeptieren, wie sie ist. Jeder Staat ist das Produkt von Ungerechtigkeit. Aber was sollen wir tun? Den Lauf der Zeit anfechten und den Status Quo in das umzuwandeln, was vor einem Jahrhundert war? Mir ist aufgefallen, dass die Menschen momentan ihre Identität stark hervorheben. In Triest sagen die Leute: Wir sind italienisch, wir sind jüdisch, wir sind griechisch, wir sind slowenisch, wir sind kroatisch. Aber wir müssen auch erkennen, dass wir einem Staat angehören, der Italien genannt wird. Die Grenze in Triest ist ein Produkt vieler Verträge und vieler Akte der Gewalt von beiden Seiten. Doch wir müssen in die Zukunft blicken. Man soll sich der Vergangenheit bewusst sein, aber nicht versuchen, sie zurückzuholen.
slo: Zwischen vielen Ländern des Schengen-Raums werden heute wieder Grenzen kontrolliert. Der gerade abgetretene italienische Innenminister Matteo Salvini wollte überhaupt eine Barriere zwischen Slowenien und Italien errichten. Wie erklären Sie sich das?
Ich bin froh, dass die Erfahrung mit Matteo Salvini zu Ende ist. Es gibt diese zwei Bewegungen in Europa: die eine Seite, die ein gemeinsames Europa mit offenen Grenzen anstrebt, und die andere, die ihre eigene Souveränität verteidigen will. Ich denke, es ist wichtig zu erkennen, dass es in Europa verschiedenste Arten von Erfahrungen gibt. Die verschiedenen Sprachen bereichern den gemeinsamen europäischen Geist, man muss die Vielfalt an Identitäten respektieren. Das ist der Reichtum, den wir Europa nennen. Das Hauptproblem ist, dass die Leute Europa vor allem als großen gemeinsamen Markt betrachten. Das erachte ich als gefährlich. Europa ist kein wirtschaftlicher Ort, sondern ein kultureller. Einen Markt kann man nicht gut teilen. Natürlich kann der Markt Menschen gewissermaßen verbinden. Aber das ist nicht der Hauptcharakter einer geteilten Identität. Ich denke, Europa muss gemeinsame politische und kulturelle Identität fördern und sollte sich nicht nur um wirtschaftliche Aspekte drehen. Wir reden von ökonomischen Indikatoren, monetärer Politik, Maastricht-Kriterien. Und die Leute sehen diesen technischen Zugang als Invasion ihres kulturellen und politischen Raumes. Das führt in eine Richtung, die von Figuren mit populistischem Denken, wie zum Beispiel Salvini, ausgenutzt wird. Wir dürfen nicht nur über Wirtschaft reden. Das sage ich, obwohl ich Ökonom bin.
slo: Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Zum Beispiel Migration. Die Leute sehen Migranten als Konkurrenten im Arbeitsmarkt. Die Debatte dreht sich wieder um Wirtschaft. Wirtschaft dient nicht dazu, zusammenzuwachsen, zu kollaborieren oder sich auszutauschen. Es ist vielmehr ein Ringkampf. Wenn einer verliert, gewinnt der andere. Es ist problematisch, wenn Menschen die Migrationskrise auf diese Weise betrachten. Sie sehen Migranten nicht als menschliche Wesen, sondern als ökonomische Konkurrenten. Das europäische Projekt sollte kein riesiger Markt sein. Markt ist Anarchie, der Markt beschützt keine Menschen und der Stärkste gewinnt. Europa soll so aufgebaut werden, dass auch die Schwachen beschützt werden.
slo: Sie gehen in Ihrem Buch auf den Begriff der Grenznutzenschule bzw. des Marginalismus ein. Was bedeutet die Grenze in der Wirtschaft?
Es ist ein Wortspiel. Der ökonomische Mainstream wird heutzutage Marginalismus oder Grenznutzenschule genannt. Aber er ist überhaupt nicht marginal, er besetzt das Zentrum des Mainstreams. Gewissermaßen gibt es eine Diktatur dieses ökonomischen Ansatzes.
Das Problem in der Wirtschaftswissenschaft ist die fehlende Debatte. Früher gab es verschiedene Ansätze: Keynesianismus, Monetarismus und so weiter. Heute gibt es nur einen axiomatischen Ansatz. Das zerstört die Wissenschaft. Auch wenn es Marginalismus oder Grenznutzenschule genannt wird, besetzt er das Zentrum. Die Folge dieses ökonomischen Ansatzes ist die blinde Zelebration der freien Marktwirtschaft. Ich bin nicht gegen die freie Marktwirtschaft, aber heutzutage sehen wir sie als mystischen Mechanismus an, der auf wundersame Weise die Güter verteilt. Meiner Meinung nach gibt es Dinge, die nicht durch freie Marktwirtschaft geregelt werden können. Zum Beispiel öffentliche Güter, Bildung, Pensionen und Versicherungen. Hier muss der Staat eingreifen, um individuelle Autonomie – auch in Form ökonomischer Unabhängigkeit – zu sichern.
slo: Welche Rolle spielen soziale Netzwerke und die Digitalisierung in der individuellen Abgrenzung? Zerstören soziale Medien wie Facebook die Individualität nicht in gewisser Weise, weil sie die Nutzer in einer Plattform zu einer gewissen Form der Interaktion drängen?
Ich persönlich benutze kein soziales Netzwerk, aber ich habe nichts dagegen. In gewisser Weise haben soziale Netzwerke die Debatte bestärkt, es ist eine Art Demokratie. Es gibt ein altes Buch von Umberto Eco, „Apokalyptiker und Integrierte“. Er beschreibt zwei Gruppen: Die einen sind süchtig nach sozialen Netzwerken und die anderen betrachten die digitale Revolution als Hölle und Zerfall der Gesellschaft. Ich denke, die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Der Hauptpunkt ist, dass in sozialen Medien jeder denkt, er sei ein Meinungsmacher. In der Gesellschaft ist eine gewisse Hierarchie vonnöten, die in den sozialen Netzwerken fehlt. Wenn ich eine Krankheit heilen möchte, gehe ich zu einem Arzt, wenn ich über Wirtschaft diskutieren möchte, diskutiere ich mit einem Ökonomen und so weiter. Hierarchie ist wichtig für eine funktionierende Gesellschaft. In sozialen Netzwerken sieht sich jeder als Experte und maßt sich die Autorität an, über alles zu sprechen. Im Internet spricht jeder über sich selbst. Wenn man eine Botschaft verfasst, weiß man nicht, mit wem man redet. Man tut nur seine Meinung kund und bleibt dabei König seiner eigenen Welt. Wir müssen bescheidener sein. Bescheidenheit ist das Wichtigste.