Von Philipp Hörmann – Ein Vater sucht mit seiner Tochter ein vierblättriges Kleeblatt. Touristinnen posieren in Sonnengruß-Stellung für Selfies. Bauarbeiter schaufeln Schotter. Ein Busfahrer uriniert ins Gebüsch: In Ljubljana lässt sich so einiges entdecken, was in keinem Reiseführer steht. Grund genug, einen ausgedehnten Spaziergang zu unternehmen.

11 Uhr: Der Schlossberg von Ljubljana
Ljubljana ist eine Universitätsstadt. 290.000 Menschen leben hier. Jeder Siebte davon studiert an einer der 23 Fakultäten der Univerza v Ljubljani. Deshalb startet dieser Spaziergang vor der Zdravstvena fakulteta – der Universitätsfakultät für Gesundheit. Der von Glasfassaden gesäumte Gebäudekomplex, hinter dessen Scheiben Menschen in weißen Kitteln umherwuseln, wirkt wie eine kleine Enklave in dem verschlafenen Wohngebiet östlich der Altstadt, das etwas eingezwängt zwischen dem Fluss Ljubljanica und den Ausläufern des Laibacher Schlossbergs liegt. In die Jahre gekommene Villen, Reihenhäuser und grau verputzte Wohnblocks teilen sich hier den eng bemessenen Raum. Vor den Gebäuden sind schmale Rasenstreifen, auf denen halbwüchsige Büsche wachsen, umzäunt. Die Seitengassen sind von stark zurückgeschnittenen Bäumen eingefasst. Auffallend sind die Müllplätze, die sich hier und auch in vielen anderen Straßenzügen der slowenischen Hauptstadt finden. Hierbei sind auf der Straße nur kleine Einwurfschächte zu sehen, in die man seinen Müll befördert. Dieser sammelt sich unterirdisch in großen Auffangbecken.

Abseits der touristischen Ströme spielen sich hier die archetypischen Szenarien eines unbeachteten Stadtviertels ab: Ein Busfahrer uriniert in das Gebüsch hinter einer Bar. Eine Frau mittleren Alters richtet sich minutenlang im Seitenspiegel eines Autos ihre Haare, um anschließend einen Friseursalon zu betreten. Sechs Kindergartenkinder hinter einem rostigen Zaun beobachten diese Szenerie indes kichernd und verstecken sich hinter dem bröckeligen Sockel, sobald PassantInnen vorbeikommen. Ein paar Schritte weiter lernt man dank der Aufschrift einer Kreidetafel des Restaurants Hiša Pod Gradom, dass „stressed“ rückwärts geschrieben „desserts“ bedeutet. Vom “Haus unter der Burg”, wie der Name des Lokals übersetzt lautet, sind es gut 75 Höhenmeter, die es bis zum Schloss hinauf zu überwinden gilt. Auf halber Strecke tuckert ein elektrisch betriebener Bummelzug vorbei und bringt zwei Wagons voll TouristInnen in die Stadt zurück. Das Gefährt ist – den Farben Ljubljanas Stadtwappen entsprechend – in grün-weiß gehalten.
Oben angekommen findet man unter einer Kastanienallee eine Fotoausstellung des slowenischen Fotografen Matjaž Krivic . Dieser hat die Entstehung von Lithium-Akkus vom Abbau des Leichtmetalls am Rio Grande in Bolivien bis hin zum Einbau ins fertige Elektroauto bildlich festgehalten. Ein deutsches Paar übersetzt sich gegenseitig den englischen Infotext auf dem ersten Schauelement: „Ach Rüdiger, hast du das hier gelesen? China, Australien und die USA kaufen jetzt rund um die Welt alle Lithium-Minen auf, damit sie die komplette Kontrolle über den Markt haben!“ Ein anderes Touristenpärchen radelt die durchaus gesellschaftskritische Ausstellung mit E-Bikes ab.

Über eine stabile Holzbrücke betritt man die über der Stadt thronende Ljubljanski grad, das Laibacher Schloss, dessen Geschichte bis ins 11. Jahrhundert zurückreicht. In den letzten 50 Jahren wurde das Schloss umfassend renoviert und dient seither als Fotokulisse: Eine Asiatin posiert vor der Burgmauer in einer leicht abgewandelten Version der Yogastellung „Sonnengruß“, während ihre Begleiterin mit dem Smartphone unzählige Bilder macht. Ohne Eintritt zu bezahlen lässt sich zumindest der mit BesucherInnen vollgestopfte Schlossinnenhof besichtigen sowie ein kleiner Teil des Burgwalls besteigen. Tut man dies, findet man sich in einem Meer aus Handys und Digitalkameras wieder.

12.50 Uhr: Die Ljubljanica – blaues Band zwischen den Häuserschluchten
Unten in der Altstadt bietet sich ein gewohntes Bild: Reisegruppen werden von regenschirmschwingenden Travelguides durch die Gassen gelotst. Souvenirläden reihen sich aneinander und verkaufen alle dieselben Magneten, Postkarten und Plüschtiere. Restaurants werben mit typisch slowenischen Gerichten, die allesamt sehr fleischlastig sind. An jeder Ecke werden Selfies gemacht. Trotzdem wirken die schmucken Häuserfassaden noch durchwegs authentisch. Die Besuchermassen stören den Flair der Altstadt überraschend wenig.

Über die Tromostovje – zu Deutsch „Drei Brücken“ – gelangt man direkt auf den Prešerenplatz, den Hauptplatz Ljubljanas, der dieser Tage neu gestaltet wird: Bauarbeiter verlegen Kopfsteinpflaster, das kreisförmig auf die Mitte des Platzes zuläuft. Durch ihre grüne Arbeitskleidung sind Handwerker farblich perfekt auf die schon etwas korrodierte Bronzestatue von France Prešeren hinter ihnen abgestimmt. Während der Arbeiten bleibt den PassantInnen an der nördlich des Platzes gelegenen Franziskanerkirche vorbei nur ein schmaler, mit Absperrband abgesteckter Fußweg. Zwei rauchende Verkäufer der Straßenzeitung Kralji ulice nutzen diesen Engpass, um ihre Hefte anzubringen.

Noch aufdringlicher preist eine blonde junge Frau mit Kapitänsmütze an der Flusspromenade eine Bootsfahrt auf der Ljubljanica an. Vorbeigehenden TouristInnen wirft sie immerfort die gleichen beiden Sätze hinterher: „Anyone for a boat trip? The next boat leaves in ten minutes!“ Zehn Minuten flussabwärts ist der Fluss im südlich gelegenen Prule-Viertel nicht mehr von Restaurants gesäumt, sondern beidseits von Spazierwegen. Holzbänke und Betonstufen laden unter säuberlich gestutzten Trauerweiden zum Verweilen ein. Junge Menschen lesen hier Bücher, hören Musik oder sitzen gesellig beisammen. Die einzigen TouristInnen, die man hier findet, winken einem gelangweilt aus den stromaufwärts fahrenden Ausflugsbooten zu.


14.20 Uhr: Zwischen Blumen und Brutalo-Architektur
Zurück im Zentrum führt die Spazierroute durch die Križevniška ulica, eine der schönsten und ältesten Gassen des Zentrums. Während hier in früheren Jahrhunderten Ritterorden angesiedelt waren, findet sich heute dort ein kulturelles Mini-Viertel, in dem sich unter anderem ein kleines Theater, das jüdische Kulturzentrum sowie unzählige Kunstinstallationen befinden. Was der Gasse jedoch ihre Besonderheit verleiht, sind die gut 150 Blumenkisten und Pflanzentröge, die hier mit viel Detailliebe aufgestellt sind. Auf weißen Parkbänken kann man inmitten dieser bunten Ansammlung aus Blumen, Sträuchern und kleinen Bäumen verweilen und die an der Fassade des Theaters angebrachten Kunstwerke betrachten.


Je weiter man die Touristenpfade gen Norden wieder hinter sich lässt, desto merklicher fallen auch die Bierpreise. In der Bar2000 an der Gregoričičeva ulica kostet eine 0,5 Liter Flasche Laško oder Union – die beiden vorherrschenden slowenischen Biermarken – nur 1,80 Euro. Nicht zuletzt daran dürfte es auch liegen, dass die gut dreißig Tische auf dem kleinen versteckten Platz vor der Bar gut gefüllt sind. Einmal ums Eck ist man am Trg republike angelangt, dem Platz der Republik. Leute strömen in alle möglichen Himmelsrichtungen über diese riesige und geschichtsträchtige Fläche. Der Platz sollte einst die Größe und Einigkeit des kommunistischen Jugoslawien verbildlichen. Ganz provokativ wurde deshalb gerade hier am 25. Juni 1991 die Unabhängigkeit Sloweniens ausgerufen.
Die beiden trigonalen Hochhäuser namens TR3, die das Erscheinungsbild des Platzes dominieren, sorgen für geschmackliche Differenzen. In der Kollegenschaft des Autors war zwischen dem Prädikat „die Schande von Ljubljana“ bis hin zum Kommentar „Brutalo-Jugo-Architektur vom Feinsten“ nahezu jede Meinung über die je zwölf Stockwerke hohen Türme vertreten. So sehr wie sich diese beiden Hochhäuser in den Himmel schrauben, so weit scheinen sie sich auch in die Erde zu bohren: Unterirdisch erstrecken sich Räume, die noch weitläufiger wirken als der Platz an der Oberfläche und vom Ambiente her etwas an den Speisesaal eines Kreuzfahrtschiffes aus den 60ern erinnern.

15 Uhr: Ein Park, städtische Hochkultur und linksalternative HausbesetzerInnen
Hinter der Moderna Galerija, aus deren Kellerfenster heraus Getränke verkauft werden und chillige Lounge-Musik schallt, gelangt man in den Tivoli-Park, den Stadtpark Ljubljanas. Hier spielen sich die urtypischen Dramen und Komödien des alltäglichen Lebens ab: Eine ältere Dame trällert a capella slowenische Operetten in der Fußgängerunterführung (zumindest vermutet der Autor, dass es sich dabei um Operetten handelt). Ein Vater sucht mit seiner Tochter ein vierblättriges Kleeblatt im Grünstreifen zwischen Rad- und Fußweg. Eine Frau küsst ihren Freund mehrmals zärtlich auf die Wange, während dieser ungerührt und unentwegt auf sein Handy blickt. Ein dafür viel zu jung wirkendes Mädchen fragt mit einer Zigarette zwischen den Fingern nach einem Feuerzeug. Die großflächigen Wiesen des Parks gehen nahtlos in einen bewaldeten Hügel über, der sich auf vielerlei Spazierwegen erkunden lässt. Einer davon, der “Jesenkova pot”, eignet sich bestens für einen botanischen Slowenisch-Crashkurs. Auf diesem Lehrpfad lassen sich die Namen der Waldbäume in der Landessprache lernen, während man unter dem Blätterdach von Črni Bezeg, Bukev und Lipa dahinspaziert.

Im Nordosten des Stadtkerns wartet in einem ehemaligen Kasernenareal, in dem vormals eine Abteilung der Jugoslawischen Volksarmee stationiert war, ein ungemein spannender Kulturmix. Zunächst betritt man – vorbei an einer hippen Garten-Lounge-Bar, in der Menschen in orangen Aperol-Spritz-Liegen gechillt Cocktails schlürfen und lässig plaudern – das moderne Museumsviertel Ljubljanas. Das Ethnologiemuseum, das Nationalmuseum und das Museum für zeitgenössische Kunst, genannt +msum, rahmen hier den ehemaligen Exerzierplatz ein. Was dieses kulturell-elitäre Bild etwas verzerrt, sind die vielen Graffitis, die nicht so recht mit den futuristischen Glas- und Betonfronten der Museen harmonieren wollen. Sie scheinen Vorboten jener Alternativwelt zu sein, die hinter einem kleinen versteckten Durchgang neben dem +msum wartet.

Schon der Name dieses Ortes scheint einer lebhaften Fantasygeschichte entschlüpft zu sein: Metelkova. Nachdem die Jugoslawische Volksarmee die Kaserne nach der Unabhängigkeit Sloweniens 1991 geräumt hatte, wurde der Norden des Areals von allerhand Leuten aus der Kunstszene okkupiert, erfolgreich gegen die Abrissbagger der Stadtregierung verteidigt und zwei Jahre später zur Autonomen Kulturellen Zone erklärt. Bis heute ist der Ort ein Hotspot der linksalternativen Szene. Während hier nachts die wildesten Partys der Stadt gefeiert werden, schleichen tagsüber TouristInnen über das Gelände und fotografieren schüchtern die verspielt bemalten Gebäude. Vor der einzigen Bar, die um diese Uhrzeit geöffnet hat und Dosenbier für 1,80 Euro verkauft, sitzen vier junge Frauen und stricken gemeinsam.


16.50 Uhr: Bagger und Bauarbeiter
Vier Querstraßen weiter findet sich direkt an der Ljubljanica das nächste Squat. Seit 2006 ist die stillgelegte Fahrradfabrik Rog, deren Räder man immer noch durch die Stadt fahren sieht, von Kunst- und Kulturschaffenden besetzt. Die bereits sehr baufälligen Gebäude beherbergen einen wilden Mischmasch aus Ateliers, Galerien, Veranstaltungsräumen und zwei Skateparks. Was in den Neunzigerjahren schon Metelkova drohte, steht nun auch den BesetzerInnen von ROG bevor: Die Stadtregierung will das Areal schleifen lassen und damit dem Treiben der BesetzerInnen ein Ende setzen. Bis dafür ein positiver Gerichtsbescheid vorliegt, ist jedoch nur die Straße vor der alten Fabrik von Baggern und Bauarbeitern bevölkert: Die Trubarjeva Cesta wird neu asphaltiert (oder womöglich auch gepflastert) und macht derweil einen äußerst heruntergekommenen Eindruck. Einheimische und wagemutige BesucherInnen stampfen über die staubige Schotterpiste, die sich zwischen den etwas maroden und mit unzähligen Graffitis übersäten, geduckten Häusern hindurchschlängelt.

Bei der nächsten Kreuzung, direkt vor der touristisch angepriesenen Drachenbrücke, informiert eine riesige Tafel an einer heruntergekommenen Gebäudefront über ein geplantes Neubauprojekt an dieser Stelle. Auf der anderen Seite der Kreuzung ist man wieder mitten in der herausgeputzten Altstadt angelangt – wenngleich auch hier einige Straßenbaustellen toben. So etwa in der Poljanska Cesta, die hinter dem Bauernmarkt am Vodnikov trg beginnt. Für das Wort “Baustellensicherung“ scheint es kein slowenisches Pendant zu geben: Als Passant läuft man in wildem Zickzack zwischen Arbeitern, Baggern, Löchern im Boden und spitzen Eisenstangen hindurch. Selbst um diese Uhrzeit sind die Arbeiter noch fleißig zugange, mischen Beton, schaufeln Schotter und verlegen Pflastersteine. Dieser Spaziergang findet hingegen um 18 Uhr – wieder im Innenhof der Zdravstvena fakulteta angelangt – sein Ende. Zwei Blasen auf den Fußballen bleiben als Souvenir.
