Kärnten 2020, Normalland

    Von Johanna EggerAm 10. Oktober 1920 stimmten mehr als 59 Prozent der Südkärntner, darunter auch viele Kärntner Slowenen, für einen Verbleib bei Österreich. Heute, 100 Jahre konfliktreicher Geschichte später, will man sich im Jahr 2020 gemeinsam erinnern. Eine Begegnung mit dem Historiker Helmut Konrad, der das Projekt “CARINTHIja 2020” maßgeblich mitgestaltet.

    Als der erste Weltkrieg bereits geschlagen war, krachten im südlichsten der neuen Bundesländer noch Bleikugeln durch die Luft. Truppen des SHS-Staates hielten Regionen Kärntens besetzt, in denen viele slowenisch sprechende Menschen lebten. Der Friedensvertrag von Saint Germain räumte den Bewohnern das Recht auf eine Volksabstimmung ein – der einzigen mit Ausnahme von Schlesien. Die Wahlversprechen der Mehrheitsbevölkerung – sprachliche und kulturelle Gleichberechtigung – wurden aber erst 90 Jahre später umgesetzt. 1920 aber glaubten sie daran, an ein gemeinsames Kärnten. Hundert Jahre vor einer Ausstellung, in der Kärnten nach seiner Identität fragt. Nach einer gemeinsam ungeteilten. Nach der gemeinsamen Geschichte und der gemeinsamen Zukunft. Nach alten Wunden und nach Heimat. Nach der Kunst, die Geschichten den Staub aus den Adern bläst. In der Kärntner Kulturszene formt sich etwas.

    An einem Septembermorgen sickert träges Licht durch die Jalousien in das Büro von Helmut Konrad, Historiker, emeritierter Professor der Uni Graz und Mitgestalter des Projektes CARINTHIja 2020, das er selbst als “Meilenstein” bezeichnet. Das Büro in der Grazer Innenstadt ist ein ruhiger Ort. An Helmut Konrad aber ist alles wach und beschwingt. Wenn der Historiker die Ereignisse nach der Volksabstimmung beschreibt, bröckelt nur wenig seines Kärntner Dialektes von den Worten, die leicht und haufenweise fallen. „Ich bringe mich in dieses Projekt, in Vision und Umsetzung, deshalb ganz stark ein, weil ich denke, dass Kärnten nicht der Dämon der österreichischen Bundesländer sein muss“, sagt er und lacht. „Wir als Exilkärntner haben ja oft gesagt: ‚Wie schön wär’ Kärnten ohne die Kärntner’. Landschaftlich grandios. Aber wer sind denn die Kärntner? Das sind auch wir.“ Man müsse also versuchen eine Landesausstellung so zu gestalten, dass sich alle wiederfinden. In der Ausstellung gehe es schließlich nicht um eine chronologische Aufarbeitung der Geschichte, sondern darum, Geschichte zu zeigen. Zu verstehen, wie die Menschen dieses Raumes sich mit den Ereignissen entwickelt haben – zu Kärntnerinnen und Kärntnern.

    Vernarbte, schöne Orte

    Die Vision CARINTHIja 2020 sieht zwei große Meilensteine vor. Zum ersten soll eine Wanderausstellung entstehen. Der zweite Teil des Projektes hat die Neugestaltung des Landesmuseums in Klagenfurt zum Ziel. Der Zeitraum dafür ist bis 2023 festgelegt. Man will sich Zeit geben, Elemente der Wanderausstellung einfließen lassen.

    Nicht die Landesregierung wird über die Inhalte der Ausstellung entscheiden, die Bevölkerung soll darüber bestimmen. Durch Projektausschreibungen und Wettbewerbe sollen Künstler, Vereine, Schulen und Wissenschaftler dazu aufgefordert werden, die großen Fragen Kärntens sichtbar zu machen. Eine Fachjury entscheidet schließlich über die Umsetzung und das Gesamtkonzept. Gefördert werden die ausgewählten Konzepte mit bis zu 60 Prozent von der Kärntner Landesregierung unter Landeshauptmann und Kulturreferent Peter Kaiser (SPÖ). Die übrigen Kosten tragen die Verantwortlichen selbst. Peter Fritz, Kurator der Ausstellung und derzeit Leiter des MAMUZ Museumszentrum in Niederösterreich, spricht in einer offiziellen Presseaussendung von einem innovativen, neuen und mutigen Projekt, in dem „Betroffene zu Beteiligten werden”. Der Leiter der Abteilung 14 für Kunst und Kultur im Amt der Kärntner Landesregierung, Igor Pucker, vergleicht die große Vision mit einer „systematischen Landesaufstellung”. Eine Ausstellung also, die wohl von der Landesregierung ermöglicht, jedoch nicht von ihr geformt wird.

    Das Projekt will die Geschichte an der kulturellen Dichte seiner Orte zeigen. Dazu gehört der Klagenfurter Bahnhof als Ort der Deportation der Slowenen in der Zeit des Nationalsozialismus. Aber auch die im Stile Picassos gestalteten Fresken des Kärntner Künstlers Giselbert Hoke in der Bahnhofshalle, mit denen dieser 1956 für einen handfesten Skandal sorgte. Wolfsberg wiederum soll die Geschichte zeigen, als dreifache Lagerstadt
    und zugleich als Ort, in dem die Kärntnerin Christine Lavant ihre Gedichte von der “Spindel im Mond” schrieb. Hüttenberg als Ort der Arbeitergeschichte, der sterbenden Industrie. All das sind Orte, die eine Geschichte der kulturellen Verdichtung geerbt haben. Sie sollen portraitiert werden, ohne zu behaupten, ihre Entwicklung sei abgeschlossen. Ein hehres Ziel, das CARINTHIja 2020 verfolgt. „Natürlich setzen wir thematisch bei der Volksabstimmung an. Aber die Ausstellung geht darüber hinaus. Wir wollen Kärnten in seiner Widersprüchlichkeit zeigen“, erklärt Konrad. In dem einzigen Bundesland, dessen Einwohnerzahl seit Jahren schrumpft, soll gefragt werden, wer geht und was kommt.

    Neue Grenzziehungen

    Nicht die Volksabstimmung selbst hat das letzte Jahrhundert in diesem Raum geprägt. Vielmehr war es der Prozess, der damit begann und Narben auf beiden Seiten der Gesellschaft verursachte. Im Jahr des Abwehrkampfes stimmten deutsch- und slowensichsprachige Kärntner für einen Verbleib bei Österreich. Die Staatsgrenze wurde auf den Kamm der Karawanken zurückgedrängt. Die deutschsprachigen Kärntner feierten den Erhalt ihres Grund und Bodens. Die Grenzen aber waren bald neue: Sprachgrenzen,
    Toleranzgrenzen, Volksgruppen. „Vor der Abstimmung gab es eine Idee eines gemeinsamen Kärntens, mit gleichwertigen Sprachen und Kulturgut. Dass sofort Deutschkärnten daraus wurde, ist meiner Meinung nach das Grundübel der Verletzungen, die auf beiden Seiten entstanden sind“, analysiert Konrad. Die slowenische Sprache wurde zur Schande, zu einem
    Symbol für Abgrenzung. Die Identität der slowenisch sprechenden Gemeindebewohner drohte sich im Druck der Mehrheitsbevölkerung aufzulösen. In vielen Familien wurde die slawische Muttersprache zur Fremdsprache. Die Dynamik einer sesshaften Gesellschaft. Stimmen der Heimat waren jene, die so vertraut waren, dass man sie für die eigene halten konnte. Alles andere klang fremd und falsch.

    “Heimat wird zu Heimat werden”, sagt Konrad in seinem Grazer Büro Foto: Matteo Eichhorn

    Erst als Ende des letzten Jahrhunderts die Grenzen in Europa fielen, brachen auch sprachliche Grenzen in Europa wieder auf. Heute ist es selbstverständlich, mehrere Sprachen zu sprechen, ohne dabei die eigene Identität in Frage zu stellen. Auch in den Grenzgemeinden sei diese Entwicklung zu beobachten, meint Konrad. Nachkommen slowenischer Familien lernen die verdrängte Sprache neu, erkennen sie als Chance. „Sprache sucht heute nicht mehr nach Ausgrenzung und Identiätsmerkmalen, sie wird in jedem Fall als Mittel der Kommunikation benutzt“, beurteilt der Historiker die Entwicklungen. Eine Annäherung erfolge dadurch auf selbstverständliche Weise. „In einer mobilen Welt wird die Sprache unwichtiger. Heimat wird zu Heimaten“, ist sich Konrad sicher. Bei kaum jemanden sei heute noch das Heimatsgefühl ausschließlich an das Elternhaus gebunden. Er, gebürtiger Kärntner, ist sich längst nicht mehr sicher, wo er zuhause ist. Im Studentenalter zog er fort – zuerst zum Studium über Landesgrenzen nach Wien und Linz, dann als Gastprofessor über Staatsgrenzen in die USA und nach Italien. Die kürzeste Zeit seines Lebens verbrachte er in Kärnten. Doch lässt er sich seine Herkunft nicht absprechen. Wenn der KAC, der Klagenfurter Eishockeyverein, spielt, werde er heute noch „narrisch“. Und wenn er von seiner Heimat im Lavanttal erzählt, lehnt sich Helmut Konrad zurück, als sinke er in einen gemütlichen Lehnstuhl.

    Helmut Konrad hat in all den Jahren im Ausland nie die Neugier auf andere Welten verloren. Doch sind die alten Erinnerungen immer der Raum, in dem man emotional zuhause ist. „Nach all den Jahren ist mein Geruch immer noch nicht dasvon indischem Curry. Es ist die Minze der Kärntner Nudeln, die nach Heimat riecht.”

    Weil Sturm im Keller gärt

    Die Vorbereitung auf CARINTHIja 2020 wird breit unterstützt. Die Landesregierung beteiligt sich maßgeblich, die Präsidenten Österreichs und Sloweniens sprechen sich für ein gemeinsames Erinnerungsprojekt aus und Kunstschaffende arbeiten an den Zukunftsfragen des Landes. „Alle wollen zeigen, dass Kärnten europäisches Normalland ist“, beschreibt Konrad die Arbeit. Im 21. Jahrhundert ist die Reinsprachigkeit einer Region längst Fiktion. Grenzen sind es auch. Doch die Erinnerung an alte Wunden, das kollektive Gedächtnis in Familien, ist real. Im südlichsten Bundesland sind nicht alle Verletzungen verheilt. Es ist noch nicht vorbei, es gibt noch Sturm.

    Kunst, und das ist die große Vision der Wanderausstellung nach Konrad, überschreitet notwendigerweise Grenzen. 2020 sollen etwa 13 Draubrücken der Kunst eine Bühne bieten. Die Wellersdorferbrücke wird Gespräche der Bewohner auf Tonbändern tragen und die Annabrücke wird Lichtspiel reflektieren. Kunstprojekte, die aus der Kärntner Bevölkerung heraus in ihrem gewohnten Umfeld entstehen und sich so als ein Teil des Landes
    positionieren. Konrad beurteilt die kreative Intervention als den Spiegel einer Gesellschaft. „Sie zeigt nicht mehr, als schon da ist und ist gerade deshalb ein Wegweiser. Sie lässt ein Volk sich selbst erkennen.” Eine Ausstellung, die Orte und Menschen nicht überformt, nicht belehrt, nicht interpretiert. Aber zeigt.

    Wunden heilen, wenn man sie atmen lässt. Es weht noch Sturm durch die Kärntner Täler, doch er bricht langsam an den Menschen. „Weil Sturm nicht nur ist, was draußen wütet, sondern auch das, was im Keller gärt, wird er sich setzen. Das ist die Hoffnung.“ Helmut Konrad lehnt sich zurück und lächelt. Eine schöne Vision, dieses CARINTHIja 2020.

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