Von Matthias Janisch – Fünf Dörfer im Süden der Steiermark wurden 1990 per Dissertation zu “slowenischen Dörfern” ernannt. Vor hundert Jahren sprachen dort nahezu alle Bewohner slowenisch, mittlerweile ist dies genau umgekehrt. Eines dieser Dörfer ist Zelting, ein Ort mit bewegter Geschichte und einer “explosiven” Gegenwart.
Zelting ist den meisten Menschen in Österreich vermutlich kein Begriff. Wenig verwunderlich, für sein großes Angebot an Freizeitmöglichkeiten und Attraktionen ist der kleine südsteirische Ort in der Gemeinde Bad Radkersburg direkt an der Grenze zu Slowenien nicht gerade bekannt. Der Hotspot von Spiel und Spaß befindet sich mit dem etwas in die Jahre gekommenen Spielplatz in der Mitte des Dorfes. Zwei Burschen spazieren umher und testen gerade die leicht rostigen Spielgeräte auf ihre Haltbarkeit: Sie reißen und springen so fest darauf umher, dass man fast Mitleid mit dem Spielzeugauto inmitten des Spielplatzes haben kann.
Die Geräuschkulisse setzt sich aus einem Mix aus Kindergeschrei, Hundegebell und dem Krächzen eines in die Jahre gekommenen Steyr-Traktors zusammen. Folgt man dem Stottern des alten Dieselmotors, findet man sich schnell auf einem nahen Bauernhof wieder. Dort sind die Bewohner ganz andere Geräusche gewohnt. Seit Jahresbeginn brachte ein Schießstand in Slowenien, keine 500 Meter entfernt, die Zeltinger Bevölkerung zur Weißglut. „Früher wurde Tag ein, Tag aus geschossen, meistens auch am Wochenende. An einen ruhigen, entspannten Nachmittag war nicht zu denken”, erinnert sich eine Landwirtin, die darauf besteht, unerkannt zu bleiben. „Meinen Namen kann man eh nicht lesen, oder?”
Tatsächlich sorgte der Schießstand, wenige Meter von Zelting entfernt im slowenischen Cankova, für reichlich Gesprächsstoff und Verhandlungen. Zu Jahresbeginn eröffnet, raubte er den Zeltingern oft Ruhe und Schlaf. Sogar die Politik wurde aufmerksam, die Bürgermeister beider Gemeinden trafen sich zu Gesprächen und Verhandlungen. Schließlich einigte man sich darauf, den Schießstand nur mehr Freitagnachmittag zu betreiben. „Das war wieder einmal ein Zeichen für die sehr gute Zusammenarbeit auch über die Grenzen hinaus”, erzählt Bürgermeister Heinrich Schmidlechner (ÖVP). Ob die Bewohner das auch so sehen? „Es ist wirklich besser geworden und damit kann man schon leben”, zeigt sich die Dame ebenfalls zufrieden mit der Lösung.

Ereignisreiche Historie
Die grenzübergreifende Zusammenarbeit hat in diesem Gebiet Tradition, funktioniert aber mal mehr, mal weniger. „Darüber will ich nicht reden, da kennt sich der Nachbar besser aus”, verabschiedet sich die ältere Dame in Richtung Stall. Direkt gegenüber liegt das Grundstück des zuvor erwähnten Bewohners. Den Herren zeichnet keine gewaltige Körpergröße, sondern vielmehr seine gewaltige Stimme aus. Mit Bier in der Hand und in Richtung Garten schauend beginnt er zu schwärmen. „Es ist schon verdammt schön hier, oder?”
Nach kurzen Jubelgesängen auf dieses Plätzchen Erde kommt er auf die Geschichte zu sprechen. Seine Stimme verändert sich schlagartig. Eine Mischung aus Nervosität und Nostalgie, aus Spannung und Sehnsucht ist zu hören. “Wir hatten schon eine schöne Kindheit hier”, beginnt er. Zu Zeiten Jugoslawiens herrschten strikte Grenzkontrollen entlang der Kutschenitza, dem schmalen Grenzbach zum heutigen Slowenien. “Vor allem Zigaretten wurden damals nahezu die ganze Zeit geschmuggelt. Da bekam man schon mit, wenn jemand aufflog.” Auch der immer offener werdende Gesprächspartner hatte seine ganz persönlichen Begegnungen mit dem ein oder anderen Grenzsoldaten. “Wir haben im Fluss gefischt, natürlich war das nicht erlaubt. Auf österreichischer Seite gab es kaum Patrouillen, das jugoslawische Militär hat uns aber schon das ein oder andere Mal davongejagt. Geschossen wurde aber, glaube ich, nie.”
Doch es gab auch Zeiten, in denen oft und scharf geschossen wurde: “Während des Jugoslawienkrieges war die Lage auch bei uns sehr angespannt, wir waren sehr besorgt.” Im sogenannten “10-Tage-Krieg” erkämpfte sich Slowenien seine Unabhängigkeit, direkt vor den Toren Zeltings. Am 25. Juni 1991 lösten sich die Slowenen von Jugoslawien, Streitkräfte der Territorialverteidigung und die slowenische Polizei übernahmen daraufhin schnell die Kontrolle über wichtige Punkte wie Flughäfen und Grenzübergänge. Am 27. Juni kam es schließlich zu Kämpfen zwischen den Streitkräften Jugoslawiens und den abtrünnigen Slowenen. Diese fanden sehr nahe der Grenze statt. In Österreich hatte man deshalb Angst, in den militärischen Konflikt hineingezogen zu werden. Das Bundesheer erhöhte daher die Präsenz an der Grenze und schickte 7500 Soldaten. Die Situation war extrem angespannt, teilweise verirrten sich auch jugoslawische Kampfjets in den österreichischen Luftraum. Am Grenzübergang Spielfeld gab es einen Angriff auf einen LKW-Konvoi. Nur drei Kilometer entfernt von Zelting wurde in Gornja Radgona (Oberradkersburg) der berühmte Kirchturm zerschossen. Nach zehn Tagen vereinbarten beide Seiten einen Waffenstillstand, im Oktober verließ der letzte Soldat slowenischen Boden.

Die unmittelbare Nähe zum Nachbarland hatte aber auch auf andere Art und Weise Einfluss auf das Leben im Dorf. Oftmals eilte den Bewohnern ein eigener Ruf voraus. “Wenn wir mit der Feuerwehr zu Festen und Bewerben in weiter entfernte Orte gefahren sind, ist man schon mal als Jugo bezeichnet worden. Ein echter Österreicher war man nie so wirklich.” Der langjährige Feuerwehrkamerad hört sich beim Erzählen dieser Geschichten nicht traurig an, vielmehr kommt er dabei ins Lachen. Wenn man seine weiteren Worte hört, wirkt dies weder komisch noch verwunderlich, sondern passend. “Es hat sich so viel zum Guten verändert, vor allem mit dem Eintritt beider Länder in die EU. Jetzt ist die Zusammenarbeit besser denn je.”
Verschwundene Sprache
Von “Slowenien” ist in der Region jedoch nicht mehr viel übrig, wie im Buch “Die Sprache im Dorf lassen” zu lesen ist. Sprachen um 1900 in den fünf “slowenischen” Dörfern Goritz, Dedenitz, Sicheldorf, Laafeld und eben Zelting noch nahezu alle Bewohner fließend slowenisch, ist das jetzt eher die Ausnahme. Vor allem nach dem ersten Weltkrieg gab es eine harte und klare Meinung in der Grenzregion. Mit den Verträgen von St. Germain gehörte plötzlich ein Teil der ehemaligen Steiermark nicht mehr zu Österreich. Dieses Österreich war fortan aber nur noch deutschsprachig dominiert, mit einem starken deutschnationalen Einfluss. Für die zweisprachige Bevölkerung war es ab dieser Zeit nahezu unmöglich, slowenischsprachig und gleichzeitig loyaler Bürger Österreichs zu sein. Das ungeschriebene Gesetz lautete: “Österreicher ist nur, wer Deutsch spricht”.
Doch auch Jahrzehnte später wurde von offizieller Seite dem slowenischen Sprachgebrauch immer wieder Steine in den Weg gelegt. Als im Staatsvertrag anerkannte Minderheit gibt es weder zweisprachige Ortstafeln, noch Schulen oder Ämter. Bis zum Jahr 2001 wurden die steirischen Slowenen von der Landesregierung in Graz nicht einmal anerkannt. Das Erlangen der offiziellen Anerkennung war damals ein großer Erfolg, der slowenische Sprachgebrauch ist seither jedoch kaum gestiegen. “Eine alte Frau spricht noch slowenisch, andere Personen fallen mir dann nicht mehr ein. Es hat sich viel getan. Mittlerweile braucht man es nicht mehr, da man sich auch in Slowenien mit Englisch und Deutsch weiterkommt”, erklärt der Gesprächspartner.
Als sich das Bier mit großen Schlucken leert und die abendliche Sonne den fein säuberlich getrimmten Rasen immer weniger ausfüllt, gibt es noch einen Geheimtipp. “Das Grenzhäuschen muss man gesehen haben. Das wirkt in heutigen Zeiten völlig surreal.”
Auf den Spuren vergangener Grenzen
Gesagt, getan. Rein ins Auto, vorbei am immer noch menschenleeren Spielplatz. Die Versuchung, die Spielgeräte einmal aus ihrem Winterschlaf zu holen und richtig zu benutzen, steigt stetig. Am Ende siegt jedoch doch das Interesse für den Grenzübergang. Abstellen. Tür auf. “Guten Tag”, entgegnet eine nervöse Stimme. Nach kurzem Rundumblick wird dann auch der Sender dieser Nachricht entdeckt. Vor der Brücke zu Slowenien betiteln mehrere, teils verrostete Schilder das Ende des österreichischen Staatsgebietes. Davor steht ein kaum volljähriger Bundesheersoldat, nicht wissend, ob er froh über Besuch sein soll oder Angst vor einem Wortwechsel haben muss.

Die Genehmigung zum Fotografieren wird schnell und unkompliziert eingeholt und trotzdem ist nicht ganz klar, ob die Furcht vor der gezückten Kamera größer ist als die vor der viel zu großen Waffe. Auf der Brücke wird einem die Kuriosität dieser Grenzkontrollen bewusst. Links wie rechts die gleiche Landschaft, links wie rechts große Einfamilienhäuser, links wie rechts Menschen, die vor Ort grenzübergreifend zusammenarbeiten möchten. Aber links, auf der österreichischen Seite, braucht man einen jungen, zurückgezogenen, schmächtigen, uniformierten Wehrdiener. “Nicht viel los heute, oder?” Die Frage wird mit einem Schulterzucken beantwortet. Daraufhin wird der Junge mit der Abfahrt in Richtung Dorfmitte erlöst, im Rückspiegel sieht man noch das Abwischen seiner Stirn.
Zurück im Ort sticht einem der Spielplatz wieder ins Auge. Auto abstellen. Tür auf. Rauf auf die Schaukel. Und ja, es ist wirklich schön hier in Zelting.