Von Ludmilla Reisinger – Goran Vojnović ist Bestsellerautor und Enfant terrible der slowenischen Literatur. Ein Gespräch über Jugo-Nostalgie, das Verhältnis zwischen Literatur und Lüge, und den Rechtsruck in Europa.
Vor dem Café Metelkova rauscht der Regen auf die Sonnenschirme, immer wieder unterbricht ein Donnern Goran Vojnović. Sloweniens aktuell bekanntester Schriftsteller – casual in Jeans und T-Shirt – trifft sich gerne an diesem Ort. Einige Male grüßt er jemanden auf Slowenisch, ehe er wieder auf die Fragen eingeht. Der 1980 in Ljubljana geborene Filmemacher und Autor hat 2018 seinen dritten Roman herausgebracht: „Unter dem Feigenbaum“ ist eine verzweigte Familiengeschichte, die sich über vier Generationen mit Ex-Jugoslawien beschäftigt. Seit er sich für seinen ersten Roman “Čefurji raus!” kurzfristig sogar eine Strafanzeige eingehandelt hatte, gilt Vojnović als “Enfant terrible” der Szene, am Ende wurde er für dieses Buch mit dem Prešeren-Preis ausgezeichnet. Im Herbst lief im Schauspielhaus von Kranj sein neues Stück “Rajzefiber” an.
slo.magazin: Wie Ihre ersten Romane bringt auch “Unter dem Feigenbaum” seine Leser in die Zeit Jugoslawiens zurück. Was bedeutet diese Vergangenheit für Sie?
Goran Vojnovic: Jugoslawien definiert mich als Person und auch als Autor. Ich habe elf Jahre in diesem Staat gelebt, ich hatte Familie in Bosnien und Serbien. Wir sind überall herumgefahren, bis alles, mit dem ich aufgewachsen bin, einfach zerbrochen ist. Meine Familie war weit verstreut, wir sahen uns für Jahre nicht und das Leben, das wir gelebt hatten, war plötzlich vorbei. Ich habe eine ganz andere Welt erlebt, die es nun nicht mehr gibt.
slo: In einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung sagten Sie, dass viele Slowenen Ex-Jugoslawien entweder als “Titos Paradies” oder “Nordkorea” bezeichnen würden – woher kommt diese Kluft in der Wahrnehmung der Vergangenheit?
Vojnovic: Es geht um die Politisierung von Geschichte: Die eine Seite präsentiert Jugoslawien als das Schlimmste, was je passiert ist, um sich selbst als diejenigen hinzustellen, die das Land zurück ins Licht gebracht haben. Und die andere Seite reagiert darauf völlig falsch. Sie stellen Jugoslawien als den Himmel dar, als die einzige Alternative zu dem zerrütteten kapitalistischen System, in dem wir jetzt leben. Wenn man sieht, wie die Menschen in Bosnien und Serbien heute leben, kann man es ihnen nicht verübeln, Jugoslawien nostalgisch zu sehen. Aber in Slowenien
kommt man mit einer weiteren Lüge nicht näher an die Wahrheit heran: Jugoslawien war ein Staat mit sehr vielen Problemen, der gleichzeitig interessante Vorstellungen dazu hatte, wie unsere Gesellschaft aufgebaut sein muss. Wir sollten es trotz seiner Schwächen als Beispiel sehen, vergleichbar etwa mit der EU.
„Sie stellen Jugoslawien als den Himmel dar, als die einzige Alternative zu dem zerrütteten kapitalistischen System, in dem wir jetzt leben.”
slo: Kann Literatur uns der Wahrheit näher bringen, von der Sie sprechen?
Vojnovic: Literatur tendiert immer dazu, die Wahrheit zu suchen, indem sie eine Lüge erzählt. Das war es auch, was mich zu ihr gebracht hat: Man beginnt zu lesen und weiß – auch wenn das auf tatsächlichen Geschehnissen basiert –, man liest Fiktion. In den Medien meiner Jugend dagegen geschah genau das Gegenteil: Du konntest nicht wissen, ob das Geschriebene der Wahrheit entsprach oder nicht. Unsere Medien waren in dieser Zeit voller Lügen, Halbwahrheiten und Propaganda. Je mehr man las, desto weniger wusste man. Was Literatur macht, ist ein anderer Weg: Sie bringt dich zur Wahrheit, so nah, dass du sie riechen kannst. Nicht wirklich die Wahrheit natürlich, aber beinahe.
slo: In Ihrem Roman geht es um die Frage der nationalen Zugehörigkeit, die mit dem Zerfall Jugoslawiens wichtiger wurde. Hat sich diese Entwicklung fortgesetzt?
Vojnovic: Ja, das wird stärker. Das passiert aber überall in Europa, wenn man sich umsieht. Es gibt eine starke Tendenz zum Nationalismus. Ich denke, das liegt daran, dass uns die Antworten auf die Fragen fehlen, die diese moderne, komplizierte, globalisierte Welt an uns stellt. Deshalb greifen die Menschen auf alte Lösungen zurück. Sie haben Angst, dass diese neue Welt, die vor unseren Augen entsteht, ihre Leben zerreißen wird. Dann gibt es natürlich Politiker, die versprechen, Mauern zu bauen. Obwohl das alles eine große Lüge ist, denn heutzutage kannst du die Grenzen nicht mehr schließen.
slo: Grenzen zu schließen ist ja ein Lieblingsversprechen der Populisten: Zeigt sich die Tendenz zum „Rechtsruck“ also auch in Slowenien?
Vojnovic: Zu einem gewissen Grad, ja. Aber wenn ich mir die Nachbarländer Sloweniens anschaue – Österreich, Italien und Kroatien –, dann halten wir uns gut. Wir sind sozusagen eine Oase des gesunden Menschenverstands in der Wüste. Und ich weiß wirklich nicht, warum wir nicht von rechten Parteien regiert werden. Vielleicht, weil die Rechten bei uns eine lausige politische Partei sind und sie es darum nicht schaffen. Ihr Problem ist – aber bitte sagen Sie ihnen das nicht – ach, Sie können es ruhig sagen, das geht ihnen sowieso nicht ein: Sie wissen nicht, wie sie ihre Ideen präsentieren sollen, die grundsätzlich für die Menschen hier attraktiv wären. Auch in Slowenien fürchten die Menschen, dass die globale Welt sie
auslöschen wird. Aber sie haben mindestens genauso große Angst davor, dass die Rechten sie davor „retten“.

Jugoslawien seiner Kindheit – Foto: David Marousek.
slo: Ihre Bücher handeln oft von Minderheiten. In Slowenien gibt es da nur zwei anerkannte: Ungarn und Italiener, die zahlenmäßig den Bosniern und Kroaten aber weit unterlegen sind. Warum?
Vojnovic: Ich bin mir nicht sicher, ob der Minderheitenstatus die Situation besser macht. Ich frage mich immer: Was würde es zum Beispiel für meinen bosnischen Vater ändern, Mitglied einer Minderheit zu sein? Wie würde das sein Leben besser machen? Er hat dann Fernsehprogramme in seiner Sprache, er kann seine Kinder in eine serbokroatische Schule schicken, aber das ist Unsinn. Was würde es einem serbischen Kind bringen, wenn es hier Serbisch lernt? Es würde in Slowenien leben und ein Außenseiter in der Gesellschaft sein. Es wäre mehr verbunden mit der Welt,
aus der es kommt, als mit der, in der es lebt. Ich glaube nicht, dass das etwas Gutes bringt. Ein Minderheitenstatus gehört ins 19. Jahrhundert. Das ist keine moderne Art, mit Diversität umzugehen.
slo: Safet, der Vater der Hauptfigur in “Unter dem Feigenbaum”, gehört nach der Unabhängigkeit Sloweniens zu den “Ausgelöschten” – jenen “Ausländern”, die seit 1991 nicht mehr als Bürger gelistet sind. Wieso hat sich da bis heute nichts getan?
Vojnovic: Die Sache mit den Ausgelöschten ist kompliziert – und in den letzten Jahren haben viele Länder versucht, etwas dagegen zu tun. Das größte Problem war aber eigentlich nicht der Akt der Auslöschung. Er war furchtbar, es war faschistisch, ja, aber es war eine verrückte Zeit und es wurde eben getan. Das Schlimmste für mich ist, dass der Staat 20 Jahre gebraucht hat, um zuzugeben, dass er etwas falsch gemacht hat. 20 Jahre, in denen Slowenien meistens von Linken regiert wurde, den antifaschistischen, den multikulturellen „Wir sind alle Brüder“-Parteien. Das ist der wahre Terror – diese 20 Jahre, bevor sie endlich unter dem Druck des Gerichts in Straßburg und der EU einen Deal gemacht haben.
slo: Es gibt aber trotzdem noch Menschen, die als „ausgelöscht“ gelten.
Vojnovic: Ja, das stimmt. Nicht jeder findet fair, dass es nur eine begrenzte
Entschädigung gibt, die man vom Staat Slowenien für dieses Unrecht fordern kann. Egal, was passiert ist, egal, wie viel Geld oder was auch immer du verloren hast, egal, wie sehr dein Leben zerstört wurde – es ist dieser Betrag und das war es. Das ist das Problem und vielleicht auch der Grund, warum noch nicht jeder seinen Status gelöst hat. Sie wollen es nicht nach diesem Gesetz tun und werden daher ihren Kampf weiterkämpfen.
slo: Ihr Erstling “Čefurji raus!” erzählte ja praktisch Ihre Kindheit. Wo spiegelt sich Ihr Leben in “Unter dem Feigenbaum” wider?
Vojnovic: Überall. Ich schreibe eigentlich nur über mich selbst und ich denke, die meisten Autoren tun das. Manche Autoren wie Knausgård packen sogar ihr ganzes Leben – vom Anfang bis zum Ende – in ein Buch. Wenn man Literatur macht, kann man eben nirgends anderswo hingehen als in sich selbt. Besonders bei meinem ersten Buch war das so – das kam einfach aus mir heraus. „Unter dem Feigenbaum“ dagegen habe ich mehr wie ein Autor geschrieben und weniger wie jemand, der ganz dringend eine Geschichte erzählen muss, die ihn schon sein ganzes Leben lang heimsucht.
„Wenn ich nichts mehr zu sagen habe, werde ich aufhören zu schreiben.”
slo: Wie viele Bestseller gibt das Jugoslawien-Thema noch her?
Vojnovic: Ich denke, Literatur sollte geschrieben werden, weil jemand das Bedürfnis dazu verspürt und nicht, weil er ein Autor werden oder Geld verdienen will. Wenn ich nichts mehr zu sagen habe, werde ich aufhören zu schreiben. Die entscheidende Frage ist also nicht, wie viele Bestseller das Thema noch hergibt, sondern wie viele Bücher noch heraus müssen. Ich glaube, ein viertes wird es in jedem Fall noch geben.